Gastbeitrag: Von der „Fledermaus“ zum kollektiven Sündenbock: Wie Vorurteile das Leben von afghanischen Flüchtlingen zerstören

Gastbeitrag von Mitra Hashemi | baahaam e.V.*

Maschhad, Oktober 2008: 

Es ist 20 Uhr in Maschhad. Mein Onkel kommt von der Arbeit nach Hause, seine Stirn in Sorgenfalten gelegt. „Er war ein Afghane, vielleicht müssen wir das Land verlassen “ sagt er leise, während sich die Familie um ihn versammelt. Die Rede ist von einem Mann, der als „Fledermaus-Mörder“ bekannt ist. Wochenlang beherrscht dieser Name die Gespräche – im Supermarkt, in der Schule, in den Warteschlangen vor dem Bäcker. Der Mörder, der Frauen vergewaltigt und tötet, soll aus Afghanistan stammen.

Für die afghanischen Einwohner Irans verschlimmert sich die ohnehin schon schwierige Situation. Beleidigungen und Beschimpfungen von Nachbarn und Arbeitskollegen werden zur traurigen Realität. Meine Oma traut sich nicht mehr zum Bäcker, aus Angst, ihr afghanischer Akzent könnte sie verraten.

Die Polizei bildet Sondereinheiten, die gnadenlos Jagd auf Afghanen machen. Ohne Papiere droht sofortige Abschiebung – und zwar auf grausame Weise. Tausende Afghanen werden so aus ihrem Leben im Iran gerissen, Familien zerstört, Existenzen vernichtet. Afghanische Kinder dürfen die öffentlichen Schulen nicht mehr besuchen.

Nach Jahren der Angst und Ungewissheit erfahren wir die bittere Wahrheit: Der Mörder war kein Afghane. Es war alles ein schrecklicher Irrtum. Doch die Wunden sitzen tief. Das Misstrauen und die Vorurteile gegen Afghanen bleiben.

Berlin, Dezember 2016: Die Bedrohung durch islamistische Terrorgruppen wie den IS ist allgegenwärtig. In ganz Europa wächst die Angst vor dem nächsten Attentat. Auch für mich, als afghanischer Flüchtling, gesellt sich zu den Sorgen um Sicherheit und Zukunft die Angst davor, dass ein Täter mit afghanischem Hintergrund alles verändern könnte.

Unser Asylantrag ist noch nicht entschieden. Was, wenn die Politik nach einem Anschlag durch einen Afghanen alle Asylanträge ablehnt und wir alle zurück nach Afghanistan abgeschoben werden?

Mannheim, Juni 2024: Ein Mann afghanischer Herkunft sticht in Mannheim einen Polizisten tödlich nieder. Die Tat erschüttert die Stadt und bringt erneut die Diskussion über Abschiebungen auf den Plan.

Obwohl die Behörden den Täter als „islamistisch-radikalisierten Einzeltäter“ einstufen und keine Hinweise auf eine Gruppenzugehörigkeit finden, lastet erneut ein Generalverdacht auf allen Afghanen. Hass und Hetze verbreiten sich in den sozialen Medien. „Endlich abschieben!“ und „Kooperation mit den Taliban“ werden gefordert.

Es ist 20 Uhr, als mein Mann von der Arbeit nach Hause kommt. Mit besorgtem Gesicht berichtet er von einem schockierenden Ereignis: Ein Unbekannter hat einen Stein auf das Auto meiner Eltern geworfen und ist anschließend geflohen. Die Situation ist beängstigend und die Frage drängt sich auf: Müssen wir erneut das Land verlassen?

Die Anschläge und die damit verbundene Stigmatisierung Afghaner führen zu Verzweiflung und einem Gefühl der Ausgrenzung. Menschen, die sich ungehört und unverstanden fühlen, suchen nach Halt und Orientierung in extremistischen Gruppen.

Es ist an der Zeit, den Teufelskreis aus Angst, Hass und Gewalt zu durchbrechen. Wir müssen Afghanen nicht als potenzielle Täter, sondern als Mitmenschen sehen, die wie alle anderen ein Recht auf Sicherheit, Würde und ein gutes Leben haben.

Die Anschläge einzelner dürfen nicht die Grundlage für unsere Politik sein. Wir dürfen uns nicht von Angst und Vorurteilen leiten lassen, sondern müssen die Werte verteidigen, die unsere Gesellschaft ausmachen: Humanität, Toleranz und gelebte Demokratie.

Ausgrenzung und Hass zwingen Menschen in die Defensive, nähren Radikalisierung und gefährden den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Anstatt spalterische Rhetorik zu verbreiten, sollten wir uns auf unsere gemeinsamen Werte und die Suche nach konstruktiven Lösungen fokussieren. Integration und Dialog sind der Schlüssel zu einem friedlichen Miteinander, in dem alle Menschen – unabhängig von Herkunft oder Religion – ihren Platz finden können.

Gastbeitrag von Mitra Hashemi | baahaam e.V.

*Positionen und Meinungen, die von den Organisationen oder Autor:innen geteilt werden spiegeln nicht automatisch die Meinung des Verbands wider.