Policy Paper – in Zusammenarbeit mit YAAR e.V.
Seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 sind Frauen und Mädchen in Afghanistan systematischer Unterdrückung ausgesetzt. Der IStGH hat diesen Zustand als geschlechtsspezifische Verfolgung klassifiziert und am 23. Januar 2025 Anträge auf Haftbefehle gegen den Taliban-Führer Haibatullah Akhundzada und den obersten Richter Abdul Hakim Haqqani gestellt. Diese Entwicklungen markieren einen Wendepunkt in der internationalen Strafverfolgungspraxis, reichen jedoch allein nicht aus, um den zahlreichen Menschenrechtsverstößen gerecht zu werden. Vor diesem Kontext kamen am 22. Februar 2025 Menschenrechtsverteidiger:innen, Jurist:innen und zivilgesellschaftliche Akteur:innen aus der Afghanistan-Diaspora im Rahmen des Berlin Forum for Afghanistan in der Heinrich-Böll-Stiftung zusammen.
Der vorliegende Policy Brief bündelt zentrale Herausforderungen und Empfehlungen, die während des Forums formuliert wurden, um politisch Verantwortlichen sowie internationalen Organisationen konkrete Handlungsschritte aufzuzeigen. Die
Teilnehmenden betonten insbesondere die Rolle der Afghanistan-Diaspora bei der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen, der Begleitung von Betroffenen und der internationalen Lobbyarbeit.
Aktuelle Herausforderungen bei der Einbindung der Diaspora in Gerichtsverfahren
Zahlreiche Stimmen aus der Diaspora beklagen die strukturelle Ausgrenzung exilierter Zivilgesellschaft aus dem internationalen Rechenschaftsprozess. Der Zugang zu ICC-Verfahren ist vielfach durch Sprachbarrieren, fehlende Informationskanäle sowie mangelnden Schutz vor möglichen Folgen durch die Taliban erschwert. Die Sicherheit von Aktivist:innen im Exil und ihren Angehörigen in Afghanistan bleibt fragil. Dazu kommt, dass die Perspektive der Frauen, LGBTQ+-
Personen und ethnischen Minderheiten im Prozess völlig unterrepräsentiert ist. Eine Unmöglichkeit, sind doch diese Gruppen besonders von Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban betroffen.
Keine Straffreiheit für Kriegsverbrechen: Was die internationale Gemeinschaft jetzt tun muss
Die beteiligten Fachleute und zivilgesellschaftlichen Vertreter:innen fordern einen systematischen Einbezug der afghanischen Exilgesellschaft in internationale Justizmechanismen. Dazu gehören:
1.Möglichkeiten der Beteiligung
Der IStGH muss sichere und barrierefreie Wege schaffen, um Zeug:innenaussagen, Beweise und Opferbeteiligungen aus der Diaspora aufzunehmen. Dies umfasst die Übersetzung zentraler Dokumente in Dari und Paschto sowie dezentrale Informationsformate.
2. Sicherstellung der Gendergerechtigkeit
Die Verfolgung von Frauen muss explizit adressiert und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit geahndet werden. Gleichzeitig gilt es, die Perspektiven von anderen marginalisierten Gruppen, insbesondere von queeren Menschen in Afghanistan einzubinden.
3.Stärkung von Dokumentationsinitiativen
Organisationen im Exil benötigen finanzielle und technische Unterstützung, um Beweise systematisch zu erfassen und sicher zu archivieren. Dies kann zur Vorbereitung auf mögliche zukünftige Strafverfahren dienen.
4.Förderung einer Übergangsjustiz aus dem Exil
Die Afghanistan-Diaspora kann eine Brückenfunktion einnehmen – zwischen Betroffenen, internationalen Gerichten und politischen Entscheidungsträger:innen. Eine Übergangsjustiz sollte dabei nicht als importiertes Modell verstanden, sondern als kontextsensibler, eigenständig entwickelter Prozess gestaltet werden. Die historische und kulturelle Vielfalt Afghanistans muss gehört und berücksichtigt werden.
5.Psychosoziale Unterstützung gewährleisten
Viele Zeug:innen leben in unsicheren, belastenden Situationen. Internationale Akteure und Geldgeber sind aufgefordert, psychosoziale Begleitung und Schutzmaßnahmen dauerhaft zu gewährleisten
Von Worten zu Taten: Politische Optionen für internationale Verantwortung
Die Veranstaltung des Berlin Forum for Afghanistan hat gezeigt: Die Afghanistan-Diaspora verfügt über Expertise, Zugang zu Communities und ein starkes Engagement für Menschenrechte. Ihre Rolle darf nicht marginalisiert, sondern muss
systematisch gestärkt werden.
Internationale Institutionen und die Bundesregierung werden aufgefordert, die afghanische Zivilgesellschaft in ihrer ganzen Vielfalt – auch im Exil – aktiv in die Gestaltung von Übergangsjustizprozessen einzubeziehen. Dazu zählt die Förderung von partizipativen Dialogformaten ebenso wie die institutionelle Verankerung diasporischer Perspektiven in internationalen Gremien. Nur wenn Betroffene gehört, geschützt und beteiligt werden, kann langfristige Gerechtigkeit gelingen.
Politische Entscheidungsträger:innen und internationale Organisationen stehen in der Verantwortung, Strukturen zu schaffen, in denen Rechenschaft, Schutz und Beteiligung auch jenseits nationalstaatlicher Grenzen realisierbar sind.
Das Event wurde unterstützt, durch die Heinrich-Böll-Stiftung