Der 15. August 2024 beschreibt das dritte Jahr nach dem Fall Kabuls und die wiederkehrende Taliban Herrschaft in Afghanistan. Mit der Rückschau möchten wir die chaotischen und grausamen Tage im August 2021 aufzeigen. Tage, die noch Jahre danach schmerzhaft in Erinnerung bleiben und den Grundstein für die anhaltende humanitäre Krise, Menschenrechtsverletzungen und Gender-Apartheid in Afghanistan legten. Die Übergabe Afghanistans an die Taliban bleibt auch drei Jahre danach katastrophal für das Land und die Menschen!
Mursal Wardak erzählt wie sie den Tag aus Deutschland wahrgenommen hat:
“Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem Kabul gefallen war. Nach vier Jahren Abwesenheit hatte ich einen Besuch im November 2021 geplant, um mein Buch “What I Left Behind” fertigzustellen. Außerdem bereitete ich mich darauf vor, mich für die Rolle des afghanischen Jugendvertreters bei den Vereinten Nationen zu bewerben. Jedes Detail war minutiös geplant, und am meisten freute ich mich auf die Aussicht, die Luft, den Boden und den Staub Kabuls noch einmal zu erleben. Trotz meines unguten Gefühls gegenüber den Verhandlungen in Doha ignorierte ich es, da ich nicht damit rechnen konnte, dass sich meine Befürchtungen bewahrheiten könnten. Dann verschlechterte sich die Lage rapide – die Taliban begannen, die Grenzen und Provinzen in alarmierendem Tempo zu erobern. Trotz der Präsenz unseres Militärs und ausländischer Streitkräfte im Lande überstieg ihr Vormarsch auf Kabul alles, was ich erwartet hatte.
Stellen Sie sich vor, Ihr Präsident stünde mit dem Militär auf einem Hügel in Kabul und würde verkünden: “Wir werden niemals aufgeben.” Sie würden sich über die Ängste der Menschen vor einem Vormarsch der Taliban auf Kabul lustig machen. Ja, das habe ich getan! Ich habe über alle um mich herum gelächelt. Aber dann passierte es. Ich war fassungslos und hatte Mühe, die Nachricht zu verarbeiten. In meinen beiden Häusern – dort und hier – wurde es still. Die Leere, die Trauer und der Schock hielten Tage, Wochen und Monate an. Können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn man erfährt, dass man nie wieder in sein Heimatland zurückkehren kann? Es fühlte sich an wie etwas aus einem Film oder einem dramatischen Roman – man wurde für ein Verbrechen bestraft, das man nicht begangen hatte.
Für die afghanischen Bürgerinnen und Bürger ist der 15. August mehr als nur ein schmerzhaftes Datum; er steht für eine offene Wunde, die unsere geistige und körperliche Gesundheit unerbittlich schädigt. Wir ertragen die Folgen einer Ungerechtigkeit, die wir nicht begangen haben, und werden von unseren Hoffnungen und unserem Vertrauen in die internationale Gemeinschaft im Stich gelassen.”
Sawita Anwari war am 15.08.21 in Afghanistan. Wie sie diesen Tagen wahrnahm berichtet sie so:
“Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als Kabul fiel. Nur afghanische Menschen können die Tiefe dieses Schmerzes wirklich nachvollziehen. Noch am Tag zuvor hätte ich mir nie vorstellen können, wie sehr der Zusammenbruch einer Regierung die mentale Gesundheit ihrer Bürger beeinträchtigen kann. Selbst jetzt, wenn ich darüber spreche, kämpfe ich mit den Tränen. Der Fall Afghanistans hat meine psychische Gesundheit zutiefst erschüttert und es mir schwer gemacht, darüber nachzudenken, ohne die Kontrolle über meine Emotionen zu verlieren.
Ich wurde nach dem ersten Regime der Taliban geboren und wuchs während der Präsidialrepublik Afghanistans auf. Die Taliban kannte ich nur aus den dunklen und bitteren Geschichten, die meine Mutter mir erzählte. Diese Geschichten veranlassten mich, in Geschichtsbüchern zu forschen, was meine Angst nur noch verstärkte. Ich studierte in Kabul und bereitete mich auf Prüfungen vor, als meine Heimatprovinz Ghor in die Hände der Taliban fiel. Ich war zutiefst deprimiert und verbrachte Tage damit, verzweifelt zu versuchen, mit meiner Familie in Kontakt zu treten und sie zu drängen, nach Kabul zu kommen. Ich war so zuversichtlich, dass Kabul niemals fallen würde. Wie falsch ich lag. Auch Kabul fiel. Ohne Zweifel war dies der schmerzhafteste und unvergesslichste Tag meines Lebens.”
Maqboul Sidiqi schildert den Tag so:
“Ich erinnere mich noch an den Tag, als Kabul fiel. Wir haben verloren, wir haben unsere Teildemokratie und all diese Erfolge verloren. Die Frauen und Mädchen Afghanistans machten erhebliche Fortschritte in Richtung Gleichberechtigung, die Frauen Afghanistans waren in allen Bereichen des öffentlichen Lebens aktiv, im öffentlichen Dienst und in den Medien. Am wichtigsten war, dass sie aktive Teilnehmerinnen in allen Aspekten des demokratischen Prozesses waren, was in einem patriarchalischen Land wie dem unseren eine enorme Erfolg war. All das hatten wir mit dem Blut unserer Jugend erreicht, die sich gegen die Terrororganisation der Taliban und ihrer internationalen Terrorpartner zur Wehr setzte. Das alles zu verlieren war ein großer Schock, von der internationalen Gemeinschaft im stich gelassen zu sein, war ein weiterer großer Schock. Ich erinnere mich noch an den Tag, als Kabul fiel. Ich erinnere mich, wie besorgt ich um meine junge Schwestern war, die an der Universität studierten, wie besorgt ich wegen der sexuellen Sklaverei durch die Taliban-Dschihadisten war. Ich erinnere mich noch an den Tag, als Kabul fiel. Ich war am Boden zerstört, ich bin immer noch am Boden zerstört.”